Als sie zum Rauchen hinausging, sah sie ihn mit Jeanine zusammenstehen und schnappte diesen Satz von ihr auf:
„Sie beide wirken immer so harmonisch.“
Sie war Jeanine schon öfter begegnet, flüchtig, aber aufgefallen war sie ihr schon. Der Ausdruck ihres Gesichts wirkte eigentümlich neutral und in ihren Worten lag eine unheimliche Glätte und Präzision, dass es schwer war einen Scherz anzubringen. Natürlich, sie fand auch, dass Jeanine eine schöne Frau war. Dicke, lange Haare, ungeheuer pechschwarz, wie das Gefieder eines Raben. Goldbraune Haut, dunkle Augen, eine kräftige, dominante Nase und aufgesprungene, sinnliche Lippen. Auch war ihr aufgefallen, dass Jeanine Kleidung trug, die wie ihr Haar schwarz war, mit einem pfeffrigen Grau oder Grün kombiniert. Und – sie war mindestens fünfzehn Jahre jünger als sie und er.
Nach der Premiere fand die Feier im Zuschauerraum statt, wo sie Jeanine mit ihm zusammenstehen sah, nicht auffällig lange, aber doch so lange, dass es ihr auffiel. Sie wusste von ihm, dass sie eine 11-jährige Tochter hatte und allein lebte, dass sie vor zwei Jahren einen schweren Absturz erlebte und kurz davor stand, wenn die Tochter nicht gewesen wäre, sich umzubringen. Diese rabenschwarzen Tage, wie er Jeanine zitierte, wollte sie nie wieder erleben. Es wunderte sie sich nicht, dass er das von Jeanine erfahren hatte. Es war seine Spezialität, Leute, vor allem Frauen, zum Sprechen zu bringen. Und er hatte es ihr auf eine solch ausdrücklich unverdächtige Art gesagt, dass sie unruhig wurde.
Als sie vom Rauchen zurückkam, standen die beiden noch immer zusammen. Sie stellte sich zu den beiden und streckte die Hand nach ihm aus, strich ihm über das schneeweiße Hemd und strahlte mit einer gewissen inneren Anstrengung Jeanine an, die freundlich nickte und mit einer tiefen, sauber artikulierenden Stimme zu ihr sprach:
„Ich hatte vorhin gesagt, Sie beide wirken immer so harmonisch, wenn man Sie sieht.“
„O Danke“, erwiderte sie und zeigte auf ihn, der nicht verriet, ob er sich gestört fühlte. „Was hat er denn dazu gesagt?“
„Er hat gesagt“, antwortete er spöttisch, „dass wir sehr viel Wert darauf legen uns gegenseitig zu sagen, was jedem wichtig ist.“
„Unabhängig davon, was der andere will“, ergänzte sie mit einem Hauch zu viel Bekräftigung.
„Genau so.“ Er nickte undurchsichtig und wendete den Blick zu Jeanine.
„Auf dieser Grundlage handeln wir dann aus, wer wann wem welche Zugeständnisse macht“, flötete sie.
„Zugeständnisse?“ Jeanine wirkte einen Moment irritiert.
„Das ist sehr wichtig!“ Sie nestelte an seinen kleinen, niedlichen Hemdknöpfen herum. „Damit wir auch mal gemeinsame Dinge finden. Und nicht immerzu voneinander erfahren, was wir nicht miteinander machen wollen.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn flüchtig. Weder wehrte er sie ab, noch erwiderte er ihren Kuss.
„Was Sie nicht miteinander machen wollen?“ hörte sie Jeanine sachlich fragen.
„Na ja, zum Beispiel… Er will das Wochenende zu Hause verbringen. Sie müssen wissen, er ist sehr häuslich. Lesen, fernsehen, kochen, aufräumen, im Garten arbeiten. Er ist sehr genügsam.“
„Klingt wie `ne Kleinanzeige“, bemerkte er. „Vermiete meinen Partner am Wochenende an häusliche Damen.“
Jeanine verzog keine Miene.
Sie kicherte. „Ja, und ich… Ich möchte eben gern ausgehen!“
„Was sie sehr oft will. Leute besuchen. Und mich dabeihaben.“ Sein Tonfall klang plötzlich sehr neutral, so als hätte er sich dem von Jeanine angepasst.
Sie klatschte lebhaft in die Hände und schaute Jeanine fröhlich an. „Was meinen Sie, wie das ausgeht?“
„Ich weiß nicht? Sie machen es abwechselnd mal so und mal so?“
„Genau! Und das ist schon das ganze Geheimnis unserer… Harmonie.“
„Es hat etwas Krämerhaftes, nicht wahr?“ fragte er Jeanine.
„Nein, nein. Ich finde es gut so“, hörte sie Jeanine sagen.
„Aber dass wir uns auch mal wie die Raben streiten… hast du das auch erzählt?“ Sie schlang ihre Hand um seine Taille.
„Aber ja.“
„Klingt das… harmonisch?“ fragte sie aufmüpfig Jeanine.
„Er hat mir berichtet, dass sie eine schwierige Phase durchmachen mussten, um das zu lernen. Ich bewundere, dass Sie das geschafft haben.“ antwortete Jeanine.
Das waren sie, diese glatten Worte von Jeanine, an denen sie abrutschte. Worte ohne Türklinken, ohne Schlüsselloch. Sie dachte darüber nach, ob sie vielleicht auch auf einen neutralen Ton umschalten sollte. Da bemerkte sie seinen Blick, der auf Jeanine ruhte. Sie kannte diesen Blick. Vor zehn Jahren, als sie sich kennen lernten, hatte er auf ihrem Gesicht gelegen.
„Das hat er Ihnen verraten?“ sie spürte, dass ihre eigene Stimme plötzlich gereizt klang. „Harmonie… das scheint Sie sehr zu beschäftigen“, beeilte sie sich Jeanine zu sagen.
„Ja. Ich finde es ist sehr selten, dass Menschen zusammenpassen“, antwortete Jeanine.
„Sie meinen also, wir würden gut zusammenpassen?“ Sie wedelte mit dem Zeigefinger zwischen sich und ihm hin und her.
„Ja. Auf mich wirken Sie so. Sie nehmen einander an wie Sie sind.“
Sie fand, dass in Jeanines Worten irgendetwas Grausames lag. Aber es war schwer zu widersprechen. Sie schaute in dieses reglose, gleichförmige Gesicht, das so schön aussah und an dem sie fast verzweifelte.
„Nein“, wandte sie sich an ihn, „…nicht harmonisch! Vielleicht meint sie eher, dass wir friedfertig wirken?“ und schaute wieder zu Jeanine.
„Sie wirken sehr freundlich zueinander.“ Jeanines Gesicht erschien ihr plötzlich hart und erstarrt.
Sie schlug die Augen nieder. „Das stimmt“, seufzte sie. „Wir werfen uns bei aller Verschiedenheit nicht vor, dass wir verschieden sind.“
„Nein, das tun wir nicht.“ Er pflichte ihr ruhig bei und musterte dabei Jeanine. Mit diesem Blick.
„Aber wir betonen es.“ ergänzte sie belustigt .
„Sie betonen es?“ fragte Jeanine irritiert.
„Ja! Er betont stets: Er sei sehr gern allein. Und von mir meint er, dass ich es ohne Gesellschaft nur schwer aushalte.“
„Erlauben Sie? Sie haben Kinder?“
Irritiert über den Themenwechsel schaute sie zu Jeanine und wischte mit der Hand durch die Luft.
„Ja-a.“
„Jeder hat seine eigenen Kinder“, ergänzte er trocken
„Sie sind groß. Aus dem Haus. In der Welt. So gut wie“, fasste sie zusammen.
„Haben Sie je daran gedacht gemeinsame Kinder zu haben?“
„Doch. Schon. Aber seit ein paar Jahren ist es zu spät“, sagte er.
Seine Auskunftsfreude versetzte ihr einen kleinen Stich. „Der Zug ist abgefahren. C’est la vie! Bei mir. Bei ihm nicht.“ Er ließ sich nichts anmerken. Sie wandte sich lächelnd an Jeanine.
„Und Sie? Wie ist das bei Ihnen. Sie sind doch noch keine vierzig?“
Sie sah Jeanine nicken. Doch ihr Gesicht zeigt keine Regung.
„Ich wollte früher ein paar mehr Kinder als nur meine Tochter.“
„Und jetzt?“
„Ich habe damit abgeschlossen, nur meine Tochter zu haben – und sie als Einzelkind aufwachsen sehen zu müssen.“
Die Sachlichkeit dieser Worte ließ sie erschaudern. Es ist, dachte sie empört, als würde sie nicht fühlen, was sie sagt. Sie suchte nach einer ironischen Entgegnung. Doch sie wusste von ihm, dass es um Jeanines Beziehungsleben eigentlich noch viel schlimmer stand. Der Vater ihrer Tochter hatte sich noch vor der Geburt aus dem Staub gemacht. Und die Männer danach… Sie sah ihn an.
Und da war er wieder: Sein sanfter, eindringlicher Blick, der auf Jeanine ruhte und ihren Worten lauschte.
Sie sprach zu Jeanine, doch von ihr abgewendet und schaute zu ihm hoch.
„Meinen Sie, dass man für eine dauerhafte harmonische Beziehung unbedingt eigene Kinder braucht?“
Sie drehte sich neugierig um, auf eine Antwort wartend. Doch Jeanine war fort. Sie meinte ein winziges schmerzhaftes Zucken in seinem Gesicht zu entdecken. Dann blickte er sie freundlich an.
Leute räumten fröhlich schwatzend Stühle und Notenständer auf der Bühne zur Seite, um eine Tanzfläche zu schaffen. Einige der Musiker packten ihre Instrumente wieder aus und begannen zu spielen. Von Jeanine war nichts zu sehen. Sie war vermutlich gegangen.
Sie wusste, was jetzt kommen würde. Er würde sie zum Tanz auffordern, sie würden tanzen und sich wie zwei Duellanten umeinanderdrehen. Ihren „Unterschied“ betonen. Ihre verdammte „Autonomie“. Und irgendwann würde ein Funken aus der erlöschenden Glut entspringen und noch einer und noch einer und sie würden sich anfunkeln und die Leute würden denken: Was für ein interessantes, harmonisches Paar! Wie schön er sie ansieht! Wie selbstbewusst sie ihm begegnet! Und sie würden nachts miteinander schlafen. Wütend. Und sie würden die Lust herbeikämpfen am Widerstand des anderen. Und dann einschlafen. Und die Umarmung würde nicht lange anhalten. Und er würde an diese Frau denken… Und daran, dass sie sich mal umbringen wollte. Sie kannte ihn.
Aber sie wollte nicht allein sein.