Das Programm

1

Wie oft hatte er sich vorgestellt, dass sie in seiner Anwesenheit mit einem anderen Mann schlief! Ja einmal, als er in ihren Armen lag, hatte er sich selbst sogar als den Anderen vorgestellt! Er stemmte sich hoch, hielt inne, schaute auf sie herab, auf ihren erstaunlich jugendlich wirkenden Körper mit den kleinen, unerhört knospenden Brüsten und auf ihr so vertrautes, alterndes Gesicht, das ganz konzentriert seine nächste Bewegung erwartete. Er wendet den Kopf und sah sich selbst nackt auf der Bettkante sitzen, ein merkwürdiger Zuschauer, lauernd und aufgeregt, ihm zulächelnd, irgendwie mit einem Hauch Schmerz darin. Und er spürte, wie er ein anderer wurde, wie die Energie sich in ihm ballte und wie die Frau unter ihm, die ja nun eine fremde war und nicht seine, wie diese Frau ihren Körper erwartungsvoll anspannte und ihm entgegen bog, wie die Augäpfel unter ihren faltigen Lidern unruhig wurden und wie ihre Lippen sich zeitlupenartig öffneten. Er lauschte und lächelte, denn er hörte wie ihr der Atem stockte.

2

„Aber du musst zurückfahren“, sagte sie, „ohne Alkohol überstehe ich das nicht.“ 

Gegen fünf Uhr früh kehrten sie zurück. Es wurde hell und die Vögel schnatterten im Garten. Stocknüchtern schwang er sich vom Fahrersitz. „Was für eine schöne Nacht“, jubelte sie beschippst. „Allein hätte ich mich das niemals getraut!“ Er nahm ihr den Hausschlüssel ab und klemmte ihren Arm unter den seinen. „Und wie sensibel du auf mich aufgepasst hast“, schwärmte sie. Er schwieg.

Im Schlafzimmer versuchte sie sich mühsam aus ihrem Kleid zu pellen. „Und du bist nicht zu kurz gekommen?“
„Alles bestens.“ Er half ihr die Korsage aufzuschnüren. 
„Dass ich 48 werden musste, um das einmal zu erleben!“
Er zog an den Schnüren, die straff wie Harfensaiten zwischen ihren Schulterblättern spannten und lockerte sie.
„Und du bist nicht eifersüchtig?“

Ein „Nein“ hätte resigniert geklungen, dachte er, und ein „Ja“ verzweifelt. Also schwieg er.
Als sie endlich aus dem engen, schwarzen Ding herausgeschlüpft war, warf sie es achtlos auf den flauschigen Teppich, streckte ihre Arme wohlig, sah aus wie ein unschuldiger Engel und hörte mit dem Schwärmen nicht auf. 
„Wie ein Baby habe ich mich gefühlt.“
Er betrachtete diesen nackten und so erstaunlich jugendlich wirkenden Körper. Was zum Teufel hatte ihn nur getrieben, sie zu diesem Abenteuer zu überreden!
„Liebling, geht es dir wirklich gut damit?“
„Aber ja!“, raunzte er gequält.

Sie wühlte sich ins Bett, malträtierte ihr Kissen mit den Fäusten und ihre Bettdecke mit den Füßen. „Nach solch einer Nacht könnte man glatt am Sinn der Monogamie zweifeln“, kicherte sie. 
„Ist schon lange nachgewiesen, dass Frauen eigentlich nicht für Monogamie gemacht sind“, knurrte er, „… ist eine Erfindung der Männer.“ Nun klang es doch resigniert, was er sagte.

Sie lachte und strampelte vergnügt mit ihren kleinen Füßchen unter der Bettdecke. „Kannst du mir mal erklären, was da mit mir passiert ist?“ 
Er angelte nach dem engen, schwarzen Ding von Kleidchen und hängte es auf einen Bügel. „Du hast eine ekstatische Verbindung zur Gattung Mann aufgenommen.“ Er spürte, dass seine Stimme belegt klang. „Musst du nicht persönlich nehmen, was da passiert ist.“ Langsam schloss er die knarrende Schranktür. Sie gluckste. „Du aber auch nicht… So wie ich mich aufgeführt habe… So… animalisch… Mit diesem… Mann…“ 
„… Mann“, dieses Wort, meint er zu hören, klang kehlig als käme es von ganz tief unten. Es versetzte ihm einen Stich. 

„Weißt du“, hörte er sie sagen, „ich habe nichts dagegen, wenn wir das wiederholen… Ab und zu. Was meinst du?“ 
Er spürte wie sich dieser Stich in seinem Magen bohrte. Ihr Stimmchen plapperte weiter und wurde immer leiser. „Weil… irgendwann ist es zu spät. Dann sehe ich wirklich zu alt und knittrig aus… für solche… Etablissements… Aber jetzt… jetzt…“

Die Vögel im Garten schienen zu schreien. Er schloss das Fenster, fädelte die ineinander verstrampelten Bettdecken auseinander. Dann hörte er ihr leises Schnarchen. 

3

„Du bist doch sonst nie mitgekommen, also habe ich es diesmal gar nicht erst erwähnt “, sagte sie entschuldigend eine Woche später beim Frühstück. Sie hatte Recht, er war die letzten Jahre nie zu den großzügigen Betriebsfesten der unter Insidern sehr bekannten Firma gegangen, bei der sie arbeitete. Doch diesmal sollte der Testwagen ausgestellt werden, der kürzlich für so viel Furore in den Nachrichten gesorgt hatte und der nun in Serie gehen sollte. Er wollte ihn sich ansehen. Also begleitete er sie diesmal. 

Zum Fest waren einige hunderte Leute gekommen. Sprungburgen für die Kinder. Bier, Bratwurst, Bänke. Das Wetter war herrlich und die Testwerkstätten hatten ihre silberfarbenen Tore aufgeklappt wie riesige Walmäuler.

Er erkannte einige ihrer Kollegen wieder. Nickte ihnen zu, ging lächelnd über ihre Bemerkungen hinweg, wo er denn die letzten Jahre gesteckt hätte. Man hätte sich schon Sorgen gemacht, ob seine Frau mit einem Phantom zusammenlebte und eigentlich „frei“ wäre. Da erregte eine Gruppe von Männern, durch ihr lautes Lachen seine Aufmerksamkeit. Ihm stockte der Atem als er unter ihnen einen besonders fröhlichen Mann entdeckte. Schlank, mittelgroß, dichtes blondes Haar. Ein heiteres offenes Gesicht. Ja, aber das war „er“ doch! Wieder fielen ihm die dezent-muskulösen Arme auf mit den sanft schwingenden Händen. Der Mann war gut fünfzehn Jahre jünger als er und seine Frau. Im schummrigen Licht des Clubs hatte er es nicht genau erkennen können…

Und plötzlich schoss es ihm durch den Kopf: Ist er ihr Kollege?

Er erinnerte sich, wie sie sich gewünscht hatte, dass, wenn sie ihm schon seinen etwas eigentümlichen Wunsch erfüllte, sie „es“ wenigstens mit einem Bekannten machen sollten. Nach einem gemeinsam verbrachten Nachmittag am See bei einem Spaziergang durch den Wald hätte man alles entspannt bereden können. Und dann.. Aber er hatte ihr widersprochen, er bevorzugte einen vollkommen Fremden. 

Er musterte den Mann, war sich nicht sicher und war sich dann doch sicher. Hatte sie sich heimlich verabredet und den Mann in den Club kommen lassen, ohne ihm etwas davon zu verraten? Er spürte wie er unruhig wurde. Deshalb hatte sie sich genau diesen Mann ausgesucht? Deshalb! Da war es wieder dieses Pochen, das ihn so atemlos machte. 

Jetzt meinte er auch die Nervosität seiner Frau zu verstehen, hier auf dem Fest, sie hatte sich allzu rasch von ihm abgeseilt. Vielleicht um den Mann zu warnen? Er hielt Ausschau nach ihr. Hatte sie bemerkt, dass er den Mann entdeckte? Doch er sah sie nirgendwo. Plötzlich breitete sich eine unbekannte Müdigkeit in seinem Körper aus. Er riss sich los und setzte seinen Weg in einen der silberfarbenen Walbäuche fort, dort, wo er den berühmten Testwagen vermutete – und ließ sich davon verschlucken. 

Der Testwagen war von einer Besuchertraube umlagert. Er drängelte sich geduldig durch. Doch er hatte keine Ruhe mehr für die technischen Details. Als er den Kopf in den Testwagen steckte, flogen ihm kleine Gedankensplitter wie Geschosse durch den Kopf, und als er einen Blick unter die Motorhaube tat, blieben sie in seiner Magenwand stecken. Lief da was zwischen den beiden? Hatten sie bereits vor diesem nächtlichen Abenteuer etwas miteinander? Eine Affäre? Er erinnerte sich an die spöttischen Bemerkungen ihrer Kollegen. Das „Phantom“. Als er mit Hand über das Heckblech strich, dachte er angestrengt nach, ob es Anzeichen für eine Affäre gab, die er nicht bemerkt hatte. Er begann zu schwitzen. Schließlich fand er sich in der schattigen Nische des Werkstatttores wieder, wie er diesen Mann beobachtete, der mit seinen dezent-muskulösen Armen und seinen sanften Händen diese unschuldige und zugleich unbändige Kraft verströmte. Waren es diese Unterarme und diese Hände, in die sie sich als erstes verliebt hatte?

4

Es war ihm gelungen, sie nochmals zu überreden in den Club zu gehen. Vielleicht, sagte er scheinheilig beim Abendbrot, würde „er“ dort öfter sein und man könnte ihm wieder begegnen…

Natürlich war er da. Sie saßen zu dritt an der Bar, schwatzten und ihm überkam das ungute Gefühl, das dieser Mann und sie das eigentliche Paar waren – und nicht er selbst und sie. Als sie die schummrig beleuchtete Spielwiese erreichten, nahm sie wie selbstverständlich die Hand des Mannes, zog bereitwillig die Korsage herunter, aus der ihre kleinen Brüste wie frische Äpfel sprangen, drückte das Gesicht des Mannes darauf und ließ sie küssen und küssen… Sie drehte sich schließlich so, dass er nicht sah, was sie mit ihren Händen tat. Dann wandte sie ihm ihr Gesicht zu und bat ihn, woanders hinzugehen…

Es verschlug ihm den Atem, er nickte gehorsam, wieder pochte es in seinem Magen. Er fühlte sich wie eine Trommel, auf die unbarmherzig eingeschlagen wurde. Mit weichen Knien streifte er durch die Räume mit diesen befremdlich gekleideten Horden von männlichen und weiblichen Brunftwesen. Er sah Paare, die allein beieinander kauerten und sich liebkosten und er sah Paare, die umringt waren von einzelnen Männern. Und er zählte sich plötzlich zu diesen einzelnen Männern, die für ein paar teuer bezahlte Stunden die Geilheit ihrer Gattung auslebten, um dann wieder zurückzukehren in die unendlich traurige Einsamkeit ihres Alleinseins.

5

Er bemerkte, wie sie gegen Mittag zurückkehrte. Er lag auf dem Sofa seines „Herrenzimmers“, das er sich vor ein paar Monaten eingerichtet hatte, nachdem ihre jüngste Tochter ausgezogen war. „Ich nehme ein Taxi“, hatte sie ihm noch im Club zugeraunt bevor sie abermals mit dem Mann verschwand. 

Sie setzte sich zu ihm, und reichte ihm eine Tasse dampfenden Kaffee. „Nein“, sagte sie, „wir hatten vorher nichts miteinander.“ Er fragte detailliert, sie antworte kaum. Irgendwann lächelte sie mitleidig, nahm seine leere Tasse und ging hinaus. „Ich möchte ihn weiter treffen. Allein.“ Er schaute ihr erschrocken nach.

Spätestes ab da war es wieder da, dieses alte, vertraute Gefühl. Er würde wieder das Leben eines kleinen Zahlrades führen, in einem Räderwerk, dessen Programm er nicht kannte. Manchmal, so kam es ihm jetzt vor, hatte das Programm Pause, dann ölte er seine Zacken und lauerte darauf, dass es wieder ansprang. Ich weiß doch, ich habe Angst, flüsterte er. Angst. Als wollte ich mir beweisen, dass ich nicht gut genug bin für eine Frau, für meine Frau, für jede Frau. 

Eine eigenartige Voraussetzung Beziehungen zu führen, dachte er.