Marie verschwindet

Es war das letzte Mal, dass er Marie sah, diese dicke üppige Teufelin. Sie saß wie immer am Mittwoch in der Eckkneipe und las mit einem Bleistiftstummel in einem dicken Wälzer. 
„Sag mal, du kennst dich doch damit aus“, begrüßte sie ihn. 
Er zog den Binder vom Hals, stellte die Aktentasche ab und ließ sich in den Korbsessel fallen. Obwohl der Bürgersteig hier eng war, saßen die Leute draußen und blinzelten zufrieden in die Herbstsonne. Die Kellnerin war eine Augenweide, fand er, sie bestellten Bier für ihn und wie immer ein Schnitzel für Marie. Er wollte hier nicht allzu lang Wurzeln schlagen. Seine Frau und die Kinder erwarteten ihn in zwei Stunden zum Abendessen.
Als Marie das Buch zuklappte, sah er, dass sie die arme Seite, die sie gerade am Wickel hatte, mit wilden Anstrichen förmlich massakriert hatte. Ja, sie hatte es schon immer mit Büchern. 

Er und Marie wohnten als Kinder im selben Haus und gingen in dieselbe Klasse. Sie war die einzige aus ihrem Jahrgang, die wieder in diesen verlotterten Kiez zurückgekehrt war, während er hier nie richtig fortgezogen war. Wenn er auch mit Unterbrechungen immer mal wo anders gelebt hatte, eine Wohnung hatte er hier immer durchgängig gemietet. Seit 30 Jahren. Er spürte, dass sie ihn heute irgendwie anders anschaute als sonst.
„Was ist los, Marie?“
Sie pulte aus ihrer speckigen Jackentasche eine herausgerissene Zeitungsmeldung und schob sie ihm rüber. Es ging um einen amerikanischen Penner, der im Herbst ein Ding drehte, weil er über den Winter für ein trockenes Zuhause und für eine regelmäßige Mahlzeit in den Knast wollte. Nur hatte der Mann Pech, er blieb gleich fünf Winter und fünf Sommer drin. Vollkommen überzogen, offensichtlich eine Abschreckung für potentielle Nachahmer, kommentierte er. Der Richter wollte sich 
nicht mit falschen Kriminellen herumschlagen. Sie nickte.
„Was muss ich machen, damit ich bei uns für ein Jahr in den Knast komme?“ 
Er starrte verständnislos in ihr großes, aufgequollenes Gesicht mit den kleinen, wieselflinken Augen.
„Nur mal so, als Gedankenspiel“, fügte sie lächelnd hinzu. 
Er verzog das Gesicht und lehnte sich zurück. Für ihn gehörte Marie zu dieser eigentümlichen Art von Verlierern, die zwar nichts auf die Reihe kriegten, die aber dafür etwas erlebten. Keine Schwätzer, sondern chaotische Macher, die auf geheimnisvolle Weise immer nur Drama und Tumult in ihrem Leben und ihrer engsten Umgebung erzeugten. Von sich selber meinte er, dass er zwar auch kein Schwätzer sei. Aber wenn er sein Leben anschaute, dachte er, dann hatte er eigentlich nicht viel erlebt. Marie würde natürlich protestieren. Jeder erlebt über die Jahre etwas Großartiges, würde sie loswettern, du hast bloß noch keinen Zugang dazu gefunden, würde sie sagen. Und ihm gewiss ungefragt erklären, was das Großartige in seinem bisherigen Leben gewesen sein könnte.
„Marie, was ist denn das für eine dämliche Idee?“
Sie pochte mit ihrem verrauchten Zeigefinger auf die Tischplatte. 
„Na los, sag schon.“ 
Er machte mürrisch ein paar Vorschläge, kam dann aber in Fahrt. Als Kind war er oft bei der dicken Marie. Ihre Eltern hatten einen beeindruckenden Flur. Ein langer, geknickter Schlauch, vollgestopft mit Büchern. Sie saßen auf den abgewetzten Dielen und sie zeigte ihm dicke Geschichts- und Kunstbände, Romane und politische Sachbücher. Ihre Mutter, die Lehrerin war, stieg über sie rüber hinweg, verdrückte sich mit Kaffee in die Stube und schaute Klassenarbeiten durch. Marie bedauerte sie wegen der in der Regel von den Schülern lustlos geschriebenen Aufsätze, durch die sich ihre Mutter quälen musste. Er schämte sich dann ein bisschen, weil er meinte, dass seine Aufsätze garantiert zu dieser Sorte gehörten.

Ihr Vater war selten da, ein schmächtiger Mann, der als höherer Parteifunktionär, den aber niemand kannte, viel unterwegs war. Jeder im Haus wusste, dass ihr Vater ein großer Schürzenjäger war und die Wutausbrüche ihrer Mutter waren berüchtigt. 
Marie schnipselte zufrieden an ihrem Schnitzel herum, was ihren üppigen Körper in ein leichtes Vibrieren versetzte. 
„Auf gar keinen Fall Bewährung“, ergänzte sie schmatzend. Sie wirkte eigentümlich entspannt, so kannte er sie nicht.
Sie spielten einige Delikte durch. Sie interessierte sich für Betrug. Er erzählte ihr einiger Formen des Trickbetrugs auf, die für sie als Täterin in Betracht kommen würden. Der berüchtigte Enkel-Trick. Der Kirchenmitarbeiter-Trick. Der Katzen-Trick. Der Lotterie-Trick.
Während er sprach und sie betrachtete, erinnerte er sich, dass sie in ihrem Kinderzimmer oft wunderliche Szenerien von Spielfiguren aufgebaut hatte. Cowboys, Indianer, Ritter, Soldaten, Tiere. Es ging immer um das gleiche: Eine Gerichtsverhandlung. Irgendein Entrechteter ging einem Herrschsüchtigen an den Kragen. Manchmal las sie ihm aus ihren erfundenen Gerichtsprotokollen vor, doch er erklärte ihr, dass dies keine fairen Prozesse wären. Sie ließ sich schließlich überzeugen, ein unabhängiges Gericht einzusetzen. Und weil er damals begann, sich für Mädchen zu interessieren und froh war für jedes weibliche Interesse an ihm, stellte er sich bei Marie, deren großer Körper schon damals beachtliche Ausformungen angenommen hatte, sehr gern als Richter zur Verfügung. Es ging eigentlich immer schief, die beiden prügelten sich am Ende, weil er, ihrer Meinung nach, ein arroganter und herzloser Richter war. Er vergaß nie, wie sie einmal auf seinem schmächtigen Körper saß und keuchend seine dünnen Ärmchen ritt. Er glotzte staunend auf ihre grandiosen, herabhängenden Brüste und bekam seinen ersten Ständer. Ihr verblüffter, tiefer Blick jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Dann warf sie ihn raus, weil er auf gar keinen Fall ein neutraler Richter war. 

Als sie die Sache durchgekaut hatten, wollte Marie noch einen Kaffee zum Nachspülen. Er war irritiert, denn sie macht keine Anstalten aufzubrechen. 
Zu seinem fünfzehnten Geburtstag bekam er von ihr ein schmales Büchlein geschenkt: Michael Kohlhaas. Als hätte sie geahnt, in welcher Branche er sich einmal herumtreiben würde. Und er war ja auch tatsächlich ganz gut darin geworden, konnte sich ein Auto leisten, Urlaub im Ausland und den neusten Elektronikmist. Im Gegenzug schenkte er ihr damals für ihre vollgekritzelten Hefte, für die Gerechtigkeitsgeschichten und Romane, die sie einmal schreiben wollte, ein kleines, schiefes Bücherregal, das er selbst zusammengezimmert hatte. Für ihn war klar, dass sie Schriftstellerin werden würde. 
Nach dem Schulabschluss verloren sie sich aus den Augen. Marie ging als Aushilfe in einen Buchladen. Er schrubbte seinen Militärdienst herunter, begann zu studieren. Durch Schulkameraden erfuhr er, dass Maries Eltern nach einem Autounfall gestorben waren und sie noch immer als Buchverkäuferin jobbte. Mit ihm ging es stramm aufwärts. Nach seinem Referendariat wurde er von seiner heutigen Kanzlei übernommen, man mochte diesen unauffälligen, schmächtigen Mann, der fleißig und blitzgescheit war. Er verdiente ziemlich gut und bei seinem ersten Prozess, den er selbständig führte und gewann, lernte er die niedliche Schwester eines Mandanten kennen, Lydia, sie heirateten und rasch aufeinander folgten zwei Kinder. 
Dass er Marie bereits zwei Jahre vor seiner Hochzeit in einem Buchladen wieder getroffen hatte und sie sich regelmäßig trafen, erwähnte er niemanden gegenüber. Kurz nach der Hochzeit verschwand Marie plötzlich. Es kümmerte ihn nicht weiter. Fünf Jahre später tauchte sie wieder auf. In seiner Kanzlei.
Sie wirkte wie ein schweres, verwundetes Raubtier und erzählte, dass sie auf dem Land ein Kind hätte, einen Jungen, der nach der Trennung ihrem Mann, der mit seinen Schwestern einen Bauernhof führte, zugesprochen wurde. Sie war noch üppiger geworden, hatte mit dem Schreiben aufgehört und hielt sich mit Billigjobs notdürftig über Wasser. Er war damals noch kein Spezialist für Familienrecht und verwies sie an einen Kollegen, den sie dann doch nicht aufsuchte. Stattdessen trafen sie sich wieder regelmäßig. Sie schliefen in ihrem eisernen Bett auf der durchgelegenen Matratze, das in einem der beiden Zimmer ihrer winzigen Wohnung stand, umgeben von aufgetürmten Büchern, die sie von ihren Eltern geerbt hatte. Er lag in ihren mächtigen Körper eingerollt wie eine Katze, sie trank Schnaps und redete über dieses Scheiß-System, die Weltformel, wie sie es nannte, die einerseits so unanständig reiche Leute hervorbrachte, die das ganze Geld gar nicht selber verdient haben konnten und andererseits Leute dazu zwinge, sich mit dämlichen Geld-Jobs abzuschinden, nur um ihre physische Scheiß-Existenz vor dem Scheiß-Jobcenter zu rechtfertigen. Oh, mit Schnaps war sie richtig in Fahrt! Sie hätte am liebsten die Weltrevolution ausgerufen. Diese Zeiträuber, schnauzte sie. Und knuffte ihn und fiel keuchend über ihn her, wenn er auf sozialdemokratische Weise widersprach. Immer öfter steckte er ihr Geld zu. 

Marie schlürfte ihren Kaffee. Er zahlte, etwas verlegen unter ihren diesmal ungewöhnlich eindringlichen Blicken. Sie erkundigte sich nach seinen Kindern und ob der Sex mit Lydia noch gut wäre. Alles bestens bestätigte er ihr, etwas unangenehm berührt. 
„Marie, was ist los?“ 
Sie bat ihn, an ihrem sonst gemeinsamen Mittwoch nicht zu kommen. Und dann war sie verschwunden.