Die unheimliche Samariterin

1

Er kannte Rebecca gar nicht und zugleich ganz gut. 

Eine schwatzhafte Nachbarin, hatte ihm in zufälligen Begegnungen, über zwei Jahre verteilt, ausführlich von Rebecca berichtet. Vergnüglicher Tratsch in der Siedlung. Als die Nachbarin das erste Mal auf Rebecca zu sprechen kam, hatte er irrtümlich angenommen, zu wissen, vom wem die Nachbarin sprach. Erst später bemerkte er, dass er Rebecca verwechselt hatte. Doch da er keine Lust hatte seinen Irrtum aufzuklären, ließ er die Nachbarin reden wie man eben über eine gemeinsame, gute Bekannte redet.
Ja in späteren Begegnungen mit der Nachbarin fragte er sogar höflich nach Rebecca, um nicht selbst etwas erzählen zu müssen. Und so wurde Rebecca zum verlässlichen Gesprächstoff, wenn er der auskunftsfreudigen Nachbarin begegnete. 

Die Geschichte von Rebecca, wie sie die Nachbarin erzählte, ließe sich knapp zusammenfassen: Als Rebecca vierzig wird, verlässt sie ihr Mann wegen einer jüngeren Frau, der sich in eine viel jüngere Frau verliebt hatte. Sie lebt dann fünf Jahre gemeinsam mit ihrem noch nicht ganz volljährigen Sohn im Haus, bis auch dieser auszieht. Nun wohnt sie dort seit einem Jahr allein, gilt als sehr zugänglich und hilfsbereit, speziell für Männer. Die Nachbarin hatte sie eine „unheimliche Samariterin“ genannt, das war ihm hängen geblieben. Doch hatte sie ausdrücklich darauf bestanden, dass Rebecca keine „Käufliche“ war. Sie sei „nur“ eine Frau, die den Leuten, speziell Männern, einfach nur gern zuhört. 

An einem Montag, im nass-trüben Spätherbst, begegnete er nach der Arbeit wieder einmal der Nachbarin. Sie schoben im Supermarkt gemeinsam ihre Einkaufswagen an den vollgestopften Regalgängen entlang, füllten sie routiniert und flink, während er auf den neusten Stand gebracht wurde. Am Käsestand sagte die Nachbarin, dass man Rebecca zur Zeit in einer beliebten Restauration der Siedlung antreffen könne, wo sie regelmäßig Wein trinke und ein Buch lese.

2

Es war nicht schwer für ihn Rebecca zu erkennen. Sie saß an der Wand mit Blick zur Tür. Eine passabel aussehende Frau befand er, zumindest auf den zweiten Blick. Ihr Kopf war leicht gesenkt, das Haar reichte bis über das Kinn und ließ dem Gesicht eine mandelförmige Öffnung. 

Irgendein Gedankenblitz hatte ihn an diesem Nachmittag genau hierher geführt. Es war einer dieser gruseligen, lichtkurzen Spätherbsttage und ihm fiel die Decke auf den Kopf. Seine beiden halbwüchsigen Söhne lungerten in ihren verlotterten Zimmerlöchern vor dem Computer herum. Seine reisefreudige Frau, die nebenher freiberuflich an Übersetzungen arbeitete, während er als Hauptverdiener der Familie einer beißenden Wochenroutine ausgeliefert war, seine Frau besuchte gerade eine ferne Freundin im Süden und würde noch eine ganze Woche fort sein, etwas, was ihm durchaus recht war. Seine eigenen Freunde waren indes von ihren eigenen Familien gebucht oder verkrochen sich mit Bier und Chips vor den Fernseher,irgendwie war er sogar dankbar dafür, denn so konnte er endlich die Gelegenheit nutzen die Spur von Rebecca aufzunehmen. 

Als sie eine Seite ihres Haarvorhangs hinter das Ohr klemmte, ein Ohr, das ihn wegen seiner Zartheit fast rührte, konnte er ihre Gesichtszüge genauer studieren. Sie hatten für ihn eine angenehm wache und zugleich herbe, ja strenge Ausstrahlung. Neugier und Distanz im rechten Maß, entschied er. Tatsächlich war sie in ein Buch vertieft, ein ziemlich dickes sogar. Hin und wieder nahm sie einen kräftigen Schluck aus einem riesigen, dickbauchigen Glas mit blutrotem Wein. Sie musste etwas vertragen können, legte er fest. Er bestellte einen Bottich Milchkaffee an der Theke und setzte sich an den Nebentisch. Da die gepolsterten Sitzbänke an der Wand durchgängig waren, saßen sie praktisch nebeneinander. Er bemerkte beim Hinsetzen, wie sie instinktiv ihre Tasche zu sich zog und kurz zu ihm aufblickte. Er griff sich eine der ausgelegten Zeitschriften vom Sims und blätterte darin. Dann schaute er sie an und sagte den Namen seiner Nachbarin. Sie wirkte für einen Moment irritiert, da sie sich verwechselt glaubte.

„Nein, nein, nein. Nicht Sie“, korrigierte er sich. „Ich wollte sagen, wir kennen sie beide.“
„Ja, das stimmt. Eine gesprächige Person“, antworte sie mit einem flüchtigen Lächeln. „Ich kenne sie tatsächlich.“

Er war für einen Moment unangenehm berührt und kam sich vor wie ein hergeschickter Freier. Zum Teufel, dachte er, was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, und warf die Zeitschrift verärgert auf den Tisch. Sie schaute verwundert auf und er fasste Mut:
„Wissen Sie, ich habe so viel über Sie gehört… Von unserer gemeinsamen Bekannten. Aber ich habe Sie noch nie in der Siedlung gesehen, so dass ich mich heute endlich mal aufgerafft habe nachzuschauen, ob es Sie wirklich gibt. Und tatsächlich. Da sitzen Sie nun.“

Sie lächelte. Nein, er hatte keine Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie klappte das Buch zu, ließ aber einen Finger drin… Da sie ihn nicht fragte, was er eigentlich über sie wisse, sprach er einfach über seine Nachbarin und stellte scherzhafte Vermutungen über ihre Schwatzhaftigkeit auf. Er spürte Rebeccas Zurückhaltung und glaubte sich ins Zeug legen zu müssen. Er wusste sich sehr eloquent und gut trainiert durch seinen Job in einer Entwicklungsfirma, die für die Automobilindustrie arbeitete. Wenn er stockte, fiel ihm auf, wie geschickt sie Fragen stellte, die zugleich sehr allgemein klangen. Zum Beispiel: „Was veranlasst Sie zu dieser Annahme?“ Oder: „Wie empfinden Sie das?“ Er meinte sie zu durchschauen. Wenn man selbst nicht am Reden interessiert, einem Gespräch aber nicht abgeneigt war, stellt man einfach Fragen, er kannte das ja von sich selbst. Während er sprach, nahm er sich Zeit, sie zu betrachten, doch ihr ungewöhnlich ruhiger, tiefer Blick versetzte ihn bald in Unruhe, ja Aufregung. Da zog sie den Finger aus dem Buch, nicht ohne vorher einen Blick auf die Seitenzahl geworfen zu haben.
„Können Sie sich die Seite wirklich merken?“
„1-5-3. Die Nummer ihres Hauses.“
Er stutzte, dann lacht er unsicher. „Verdammt. Woher wissen Sie…“

Sie erwiderte sein Lachen mit einem Schmunzeln und betrachtet ihn eindringlich: „Sie dürfen mich jetzt gern Dinge fragen, die mich betreffen. Auch wenn Sie die vermutlich schon wissen.“

Er ging irritiert auf ihr Angebot ein, tat es gehorsam und fragte. Manchmal, schien ihm, ließ sie etwas aus, und er ergänzte mutig scherzend. Und sie lachte:
„Das war Absicht. Ich wollte nur wissen, ob unsere Bekannte etwas ausgelassen hat.“

Sie bestellte einen weiteren blutroten Wein und er wechselte auch, vom Kaffee zum Wein. Er dachte kurz daran, wie er wohl auf sie wirken würde. Nun ja, er bildete sich nicht allzu viel auf sich ein, er hielt sich für einen jeher unauffälligen Mann, der selbst dafür sorgen musste, die Aufmerksamkeit einer Frau zu erhaschen, aber er wusste, dass er sich auf seine Verführungskräfte gut verlassen konnte, wenn er sie abrief. Er sah nicht schlecht aus, ein kleines, aber unaufdringliches Freizeitbäuchlein hatte sich über die Jahre gebildet, sein Haar war angegraut, aber noch voll und er achtete darauf, ohne pedantischen Aufwand, gepflegt zu erscheinen. Als erstmals ein längeres Schweigen eintrat, fragte sie ihn, ob er eine Frau und eine Familie habe. Er wusste, dass diese Frage längst anstand und bemerkte verwundert, wie unangenehm es ihm war, darauf zu antworten. Es behagte ihm nicht ausgerechnet jetzt als „gebundener Mann“ zu erscheinen. Doch dann stutzte er und dachte an die gemeinsame Bekannte. Leugnen hatte vermutlich keinen Sinn.

„Sagen Sie mal, wie viel wissen Sie eigentlich über mich? Immerhin wissen Sie ja, wo ich wohne.“
Sie schaute ihn lange schmunzelnd an. Und dann dämmerte es ihm.
„O nein!“
„O doch.“
„Was hat Sie Ihnen über mich erzählt?“

Sie zuckt unschuldig mit den Schultern. „Vermutlich das, was Sie ihr über sich verraten haben.“
Er dachte nach, was das hätte sein können. Und er erinnerte sich, wie seine Nachbarin auf geschickte Weise, Fragen über ihn, in ihre Berichte über Rebecca eingewoben hatte. Er fluchte und entschuldigte sich. 

„Und Sie. Haben Sie unsere…“, er suchte nach dem richtigen Wort, „…Spionin… etwa auch über mich ausgefragt.“

Sie nickte. „War aus reiner Höflichkeit. Am Anfang.“

Er schüttelte den Kopf und lachte. „Und was wissen Sie über mich?“

Als sie mit ihrem stenogramm-artigen Bericht zu Ende war, nickte er anerkennend. 

„Immerhin. Wenn unsere Bekannte nicht wäre, wir würden nicht an diesem Tisch sitzen. Und wer weiß…“ setzte er fröhlich hinzu, „vielleicht ist Sie ja in Ihrem Auftrag unterwegs…“ 

Er erschrak über diesen dummen Gedanken und bemerkte, dass sie für einen Moment sehr ernst wurde, er meinte, gar einen Schimmer von Traurigkeit in ihrem Gesicht zu entdecken. Er entschuldigte sich umständlich für seine Unverschämtheit, schob es auf den Wein, von dem er nicht viel vertrüge, und gestand ihr mit einem gekünstelten Lachen, dass, wenn er schon etwas hätte über sich kundgeben müssen, er ihr dann lieber die traurige Geschichte eines Mannes hätte präsentieren wollen, dem seine Frau samt Kindern davon gelaufen war, und der nun, vergrämt und verbittert verlotterte, den Garten zuwuchern ließ und einfach nur eine Frau suchte, die seiner verletzten Seele zuhören würde. Und dann schlug er sich an die Stirn, lachte gequält für diese nächste Übertretung.

Sie wurde plötzlich ernst.

„Na dann erzählen Sie mir mal diese Geschichte.“ 

Tatsächlich fiel es ihm nicht schwer die Geschichte seiner Frau und seiner Familie umzudichten. Er zeichnet sich zunächst als zähen Einzelgänger, der getrennt von seinen geliebten Kindern lebte und vor Gericht zog, um sie den Klauen seiner machtgierigen Exfrau zu entreißen, damit er sie überhaupt sehen konnte. Dann aber radierte er das Bild weg und zeichnete er sich als einen Mann, dessen Widerstand zerbrach. Mit pathetischer Geste, betonte er die Wucht der Vorwürfe seiner Frau, die ihren Eindruck beim Gericht hinterlassen hätten… Sie hörte geduldig zu, fragte ein paar Details nach und als er schließlich zum Schweigen kam, schaute sie ihn nachdenklich an.

„Haben Sie diese Geschichte schon lange im Kopf?“

Er bekam einen Schreck. Und er erinnerte sich. Er hatte dieses Szenarium tatsächlich oft durchdacht und in unruhigen Nächten ausgeschmückt, während seine Frau friedlich neben ihm schlief. 

Rebecca blieb unerbittlich, sie bestellte Wein nach und  befragte ihn genauer zur Trennung von seiner Frau und seinen Kindern, die doch gar nicht stattgefunden hatte. Sie befragte ihn zu den Gründen seiner gescheiterten Ehe, die er doch gar nicht kennen konnte, weil sie doch gar nicht gescheitert war. Er wurde sehr unruhig, zappelte mit den Beinen. Er schien förmlich zu versinken in den langen, tiefen Blicken dieser Frau, die ihn zugleich mit ihren Fragen zu den tollkühnsten Auslegungen ermunterte, zu den waghalsigsten Vermutungen über die Gründe seiner erfundenen Trennung. Trunken verstieg er sich in Annahmen über seine Frau, die Rebecca wiederum listig hinterfragte, mit kleinen bösen Fragen, die so allgemein klangen und doch wie Gift wirkten und die ihn endlich zutiefst beunruhigten. 

War seine Frau wirklich bei ihrer Freundin im Süden? Was tat sie eigentlich den lieben langen Tag, wenn er im Büro saß und die Kinder an den Schulbänken ihrer ungeliebten Schule. Hatte er schon einmal Texte gesehen, die seine Frau übersetzt haben wollte? Er war bestürzt und ergoss sich zugleich wortreich und selbstkritisch über sein eigenes unaufmerksames Verhalten seiner Frau und den Kindern gegenüber. Was für schmerzvolle Fragen Rebecca auch stellte! Bald focht er mit lustvollem Sarkasmus gegen sich selbst. Bald beschrieb er ihm lästige Charakterzüge seiner Frau. Seine Erschütterung war schließlich so tief und echt, dass er nicht mehr zu unterscheiden vermochte, ob er von der Vielschichtigkeit einer erfunden Lüge ergriffen war oder vom möglichen Schicksal seiner Ehe, das er in naher Zukunft nicht mehr gänzlich ausschließen konnte, ja sogar, je weiter er sich durch Rebeccas Fragen in die Tiefe seiner Ehe hineindirigiert sah, er dies schließlich als höchst wahrscheinlich zu befürchten begann. Spätestens dann nahm Rebecca seine Hand, streichelte sie und hauchte einen Kuss darauf.

„Beruhigen Sie sich. Das ist nur eine erfundene Geschichte.“

3

Als der Genuss sich langsam aus dem Bauch, den Beinen und seinen Schwanz verflüchtigte, wurde er unruhig. Er hatte keine Lust, von den Jungs gefragt zu werden, wo er denn die Nacht verbracht hätte. Plötzlich hörte er ihre Stimme.

„Du bist unruhig.“

Sie winkelte den Arm an, stützte den Kopf darauf und lächelte ihn an. Ihr Blick verunsicherte ihn. Er wurde ärgerlich.

„Warum hast du mich meine Frau und meine Familie so verraten lassen?“

Sie schaute ihn lange an.

„Ich hatte den Eindruck, es war dir wichtig, diese Geschichte einmal so zu erzählen.“

Ihm war zum Heulen zumute. Ein paar Minuten später strich sie ihm über die Wange, er blickte sie verwirrt an, unter dem Morgenmantel, der eine mandelförmige Öffnung ließ, zeichnete sich ihr nackter, weicher Körper ab, dann schloss sie die Tür. Er eilte los, seinem Haus ein paar Straßen weiter entgegen. Es hatte geregnet, die Luft war feucht und schwer. Er rannte schließlich und die Füße wurden ihm nass, da er die Lücken zwischen den Pfützen verfehlte.