Die Archivarin (2001)

1

Sie war blond und schleppte einen merkwürdigen Körper mit sich herum. Es war als schaute man zwei Frauen in einer an. Sie war ziemlich groß und hatte einen mächtigen, weichen wulstigen Oberkörper, ganz im Gegensatz zu ihren ungewöhnlich schlanken Beinen. Beides war faszinierend anzuschauen, aber passte nicht zusammen. Er schätzte sie Sie Anfang vierzig.

Er traf sie im Kreisarchiv in einem zweistöckigen Plattenbau. Drei Durchgangszimmer, die Türen fehlten. Zimmer ist das falsche Wort, es assoziiert Heimeligkeit, die es nicht gab. Die Wände waren vollkommen kahl.

Im ersten Raum, eigenartiger Weise in der Mitte, stand ein quadratischer Tisch mit zwei Stühlen, eine Fransendecke auf der Platte, ein Blumentopf mit Untersetzter drauf. In der Ecke ein altes, vergilbtes Kopiergerät. 

Im zweiten stand schräg in den Raum gestellt ihr rechteckiger Schreibtisch mit Telefon und Computer. Ein Aktenschrank in der Ecke. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster. Ihr gegenüber vereinsamt ein großer Blumenkalender an der Wand und ein winziges rundes Tischchen, mit zwei Stühlen und wieder einem Deckchen drauf. 

Im dritten Raum standen zwei Tische zusammengerückt vorm Fenster, vier Stühle, das war alles. Der Leseraum. 

Es war eigentümlich dämmerig, aber nicht unangenehm. Sie fragte ihn, als sie die gebundenen Zeitungen aus dem Keller auf seinen Tisch legte und er von den Akten aufblickte, die sie ihm auch herausgesucht hatte, ob sie das Licht anschalten solle, sie hasse das Neonlicht, deshalb sei es hier vielleicht zu dunkel. 

Er fragte, wie lange sie hier schon arbeite, dreizehn Jahre, sagte sie und blieb an der Türöffnung stehen, lehnte sich an und sprach diesen sonderbaren Satz. „Ich bin hier ein kleines Licht. Eine Kerze, die man auspusten kann.“ Sie hatte ein ungewöhnlich ebenmäßiges Gesicht, fand er und war verblüfft, ließ sie reden und betrachtete sie.

Sie redeten Mus, überflüssiges Zeug, Regionalpolitik, Landratswahlen, die Wessis im Kreis… Sie redeten das alles, weil sie gern miteinander reden wollten, obwohl er eigentlich nichts zu sagen hatte. Er genoss, wie sie so dastand. Und sie, schätze er, wie er so dasaß und offensichtlich alle Zeit der Welt hatte, sich das alles anzuhören. Sie machte Witze über sich selbst, weil sie so viel rede, aber sie sei seit fünf Jahren hier allein. Und er sagte, dass sie alles reden könne, solange sie dort stehen bleiben würde und er sie anschauen dürfte.

Er hatte bereits zwei Stunden gelesen, war müde, träge, lüstern, die Sonne stand tief im Raum, er roch nach einigen Dutzend staubiger Akten… und nun die Zeitungen.. und sie stand an der Türöffnung mit ihrem riesigen wulstigen Oberkörper und die Worte perlten aus ihrem Mund, was hatte sie für ein helles, göttliches Gesicht. Irgendwann fragte sie ihn aus, er musste telefonieren, sie ließ ihn wieder allein.

Er las später einen Artikel über sie in der Zeitung, sie hatte Besuch von der Landrätin bekommen, irgendein Jubiläum, sie stand neben der zierlichen, gut gekleideten Rätin, die eine überdimensionale historische Kladde in den Händen hielt.

Er traf sie Monate später in einem dieser riesigen Einkaufszentren wieder, zufällig, jeder von ihnen hatte pralle Tüten in den Händen, sie schwitzten wie die Schweine, es war Juli geworden und entschlossen sich gemeinsam einen Drink zu nehmen, in einem Bistro, deren Stühle im überlaufenen Kreuzweg der halligen Schläuche standen, geschützt von einer hölzernen mit Kunstblumen verzierten Balustrade.

Sie schwitze mehr als er, er schaute verzückt auf die Bläschen auf ihrer Oberlippe, ein Rinnsal, das von der Schläfe über ihren Hals auf das rechte Schlüsselbein führte, wo die Tröpfchen sich auf den Weg zu ihren Türmen von Brüsten machten. 

Sie sprachen über Kinder, er über seinen kleinen Sohn und seine Sprechversuche, sie über ihren, als er auch noch klein war. Er hakte nach, damit er nicht reden musste und sie weiter anschauen konnte. Und irgendwann packte sie zögerlich aus…

Sie nahmen jeder einen Orangensaft mit Eis und Schuss. Sie hatte die Tüten zwischen ihre sagenhaft schlanken Beine gestellt, die Brüste ruhten auf den Unterarmen, vorgebeugt sog sie am Strohhalm. Der Pegelstand der trüb-orangene Brühe nahm rasch ab. 

Dann lehnte sie sich zurück und fing an zu erzählen. Er wusste nach ein paar Worten, sie würde ihm irgendwann eine Geschichte erzählen, eine Sache, die ihr an die Nieren ging, er spürte es im Urin und bekam sofort eine seiner akustischen Halluzinationen. Er hörte das Fußgetrappel der Leute auf den glatten grau-spiegeligen Fließen, das Geschlurfe und das Geklapper der Absätze. Das Stimmengemurmel war völlig weggeblendet und nur noch ihre weiche, warme Stimme war da, bei der er an alles andere denken wollte als an eine tragische Herzgeschichte. 

2

Ich weiß nicht, ob mich der Teufel ritt, jedenfalls entschloss ich mich, ihre Geschichte permanent mit Zwischenfragen zu unterbrechen, damit der schwere Seelensaft verdünnt würde, den sie mir in meine Herzschale gießen wollte. Ich wollte sie zu Details zwingen, zu Abschweifungen, zu einer breiten, farbigen Story mit vielen Einzelheiten. Das würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich müsste nicht sofort auf Betroffenheit umschalten, was mich verunsichert hätte. Ich hätte meinen Spaß an irgendwelchen Einzelheiten und könnte sie ununterbrochen anschauen.

„Wann und wo war das genau?“
„Er lag auf dem Sofa, im Wohnzimmer, nicht in seinem Zimmer, hatte sich so in Wolldecken eingerollt. Und das war morgens. War ganz trübes Licht draußen, ich hab die Vorhänge abends nicht zugezogen, weil ich früh ins Bett bin, mit einem Buch, so‘n dicker Schmöker.“
„Haben Sie noch ein Ehebett drin?“
„Ja, ja. Ich kann mich rechts oder links hinlegen, irgendwie fehlt mir einer.“
Sie lachte. Mir wurde ganz flau im Magen.

„Jedenfalls, er muss früh gekommen sein, so zwischen sechs und sieben. Da bringen die die Zeitung, er hat sie nämlich aus dem Kasten genommen und noch drin gelesen. Die lag aufgeschlagen auf dem Fußboden. Ich hab mich noch gewundert, weil er eigentlich keine Zeitung liest.“
„Haben Sie nicht einen Schreck bekommen, als plötzlich aufruhte… am Morgen…“
„Nein, ich hab keinen Schreck bekommen, das fand ich auch merkwürdig. Ich leb ja allein, seit Monaten ist er weg. Und da ist auch kein anderer in der Wohnung gewesen, keine Freundin oder ein Mann. Ich treff mich lieber im Café.“
„Ähm, schlafen Sie nackt?“
„Nei-ein.“
Sie grinste und mir wurde richtig schlecht vor Lust. Ich machte eine demonstrativ ärgerliche Geste über meine blöde Zwischenfrage. Sie kicherte.

„Als ich ihn sah, hab ich ihn erst gar nicht erkannt, mir war wirklich nicht klar, dass er das war. Er hatte mir den Rücken zugewandt. Aber ich hab gleich gesehen, dass es ein Mann war…“
„Und trotzdem keine Angst?“
„Nö. Ich weiß auch nicht, wie das kommt. Ich denk, dass ich dieses Schneckenhausgefühl nicht kenn, dieses Ich-in-meiner-Burg-und-da-darf-keiner-rein und so, das ist bei mir nicht. Bei mir kann man reinlatschen, ich lass draußen oft den Schlüssel stecken. Komm gar nicht auf die Idee, dass man bei mir was klauen könnte. Da ist ja nichts, woran ich hänge. Oder dass mir jemand auflauern könnte… Ich bin in einem Einfamilienhaus aufgewachsen, vielleicht deshalb.“ Ich grinste, verkniff mir aber eine dämliche Bemerkung.

„Und wie haben Sie mitgekriegt, dass er es war?“
„Ich hab ihn erkannt als ich den Schlüsselbund auf der Tischplatte gesehen hab, da ist so ein schwarzer Panther dran, Hartgummi, für Kinder, diese Zoosammlung von… Er hat den zum 14. Geburtstag geschenkt bekommen. Da war mein Mann gerade erste Mal ausgezogen.“
„Und dann?“

3

Dann unterbrach er sie nicht mehr. Sie redete und und redete und er hörte ihr zu, er dachte manchmal an das Fahndungsfoto in der Zeitung. Sie drehte das leere Glas, die Eiswürfel klirrten. Die Füße der Einkäuferhorden trappelten, ihre raunenden Stimmen setzten ein, er lehnte sich zurück, das Licht floss durch das milchige, gewölbte Deckenglas herunter, er stemmte die Arme in den Nacken, fühlte sich sauwohl, hörte ihr zu und knöpfte in Gedanken ihre Bluse auf…