Das Ohne-Ich (1997)

Montag, abends
Gleichgültigkeit ist eine Medizin, die mich davor bewahrt, dass ich mich zu sehr in einen anderen Menschen verliere. Wenn ich sie meistere ist mir Unabhängigkeit und Freiheit garantiert! 

Dienstag, morgens
Ich weiß, die meisten glauben, dass für diese Art von Gleichgültigkeit, wie ich sie meine, kein großer Aufwand nötig sein. Aber das bezweifle ich. Natürlich darf man sie nicht dort suchen, wo der Mensch ohne wirkliche Beziehungen zu anderen Menschen lebt. Da wird die Gleichgültigkeit als Medizin für eigene Qualen nicht gebraucht. Denn wenn man nebeneinander dahinlebt, ohne Liebe, hat das mit dem Erfordernis der Gleichgültigkeit nicht viel zu tun. Aber dort, wo wir verstrickt sind in eine Fülle von Beziehungen, dort, wo wir uns auf die Menschen stürzen, weil wir ohne sie verhungern und verdursten würden, da ist für die Gleichgültigkeit ein hoher, disziplinierter Aufwand notwendig! Dort brauchen wir sie zum Überleben. 

Dienstag, spät nachmittags
Mir scheint, erst im Zustand größter Erschöpfung, die eine zu große Anteilnahme auslöst, erst da können wir das Tor zur Gleichgültigkeit aufstoßen! Dann, wenn man die Nähe zu den Menschen, die man liebt und lieben möchte, nicht mehr aushält. Ich spreche von jener Erschöpfung, die sich dem Rückzug vom Menschen verweigert! Nicht der Hunger nach den Menschen geht hier verloren, sondern der Hunger nach Anteilnahme! Nicht die Sucht nach Betrachtung und Studium deines Mitmenschen, sondern die Sucht nach Meinungen und Urteilen über geht dir verloren. Nicht deine Gefühle gehen verloren, sondern deine Gedanken, die sie auslösen. Oh, wie gut das tut! Die Teilnahme, das Denken, das Gefühl, all das reinigt sich von lästigen Ansichten und Standpunkten. Diese Offenbarung nenne ich Gleichgültigkeit. Denn das, was ich mit anderen Menschen erlebe und spüre, hat gleiche Gültigkeit, ist gleichsam bedeutsam und unbedeutend. Diese Fähigkeit, keinem mehr den Vorrang geben zu müssen, nein, nicht mehr geben zu wollen – diese Fähigkeit zur Gleichgültigkeit erlebe ich jetzt wie eine Erlösung! Die Dinge belassen wie sie sind. Keinem Weg mehr folgen! Nicht mehr unentschieden sein, sondern jenseits von Entscheidungen. Verstehen ohne Folgen. 

Mittwoch, frühe morgens
Nicht leugnen, sondern darauf bestehen möchte ich, dass ich nur leben kann in Anwesenheit mit meinen Mitmenschen. Ja, ich bin auf sie angewiesen! In den trunkensten Stunden gestehe ich mir immer wieder ein, dass ich sie unterschiedslos liebe, ach, leidenschaftlich begehre und an ihren Geschichten mehr interessiert bin als an meinen eigenen! Darum nehme ich das Adjektiv „gütig“ hinzu und schließe meinen Frieden mit diesem unheimlichen Gefühl der gütigen Gleichgültigkeit. Ja! Die Güte ist nötig! Sie füllt die Gleichgültigkeit mit Wärme und Frieden. Oh, wie oft verpasste ich den Eintritt in diese unscheinbare Gasse auf meiner Lebensroute. Unbemerkt und mit bewundernswerter Ausdauer rausche ich stets an ihr vorbei. Nein, es ist wirklich nicht leicht, gütig und gleichgültig zugleich zu werden und dabei die Abzweige in die Missgunst und Häme oder in die Verachtung, gar in den Ekel, geschickt zu umgehen. Ich will mich ab jetzt darin versuchen. In gütiger Gleichgültigkeit.

Mittwoch, nachts
Ich habe nichts mit einem Bohémienne gemein, welche die Verachtung der Gesellschaft stilisiert. Weder wohnt Zynismus in mir, noch Ironie, obwohl sie unendlich unterhaltsamer wären als mein gradliniges Pathos. Du würdest über mich lachen, wenn du mich jetzt sehen könntest! 

Donnerstag, mittags
Mein Liebster! Ich bin jetzt weit weg, hier in einem Bergdorf, wo es plötzlich keine Mühe mehr macht unter Menschen zu sein. Ich bin auf etwas wichtiges gekommen, deshalb schreibe ich dir diesen Brief, der irgendwo anfängt, denn man muss ja irgendwo einen Anfang setzen, und der irgendwann aufhört. Wir werden sehen.

Donnerstag, nachts
Kennst du das? Dass man sich auslöschen möchte, vollständig auslöschen? Ausgenommen den Fakt zu existieren, ich meine, geboren zu sein, da-zu-sein. Kennst du den Wunsch, sich neu zu erschaffen, obwohl man weiß, dass das nicht so einfach geht? Und dass man dabei dennoch so weit wie möglich gehen möchte. Bis an die Grenze. Nicht um sich ändern, nicht um dieselbe zu bleiben, sondern um wirklich eine Andere zu werden. Kennst du das? Diesen Wunsch?“ 

Freitag, vormittags
Natürlich, ich muss ich akzeptieren, was mich physisch ausmacht. Dass ich einsfündundsechszig groß bin, fast achtzig Kilo wiege, braue Augen habe und dünnes rotes Haar. Das muss ich wohl annehmen. Mehr oder weniger. Selbstverständlich könnte ich abnehmen. Ich könnte meine Haare färben, hohe Schuhe tragen. Aber das meine ich nicht. Ich muss nicht nur meinen Körper akzeptieren, auch meine Vergangenheit muss ich akzeptieren, was ich getan habe, was ich unterlassen habe, auch was ich nun bedauern möge. Annehmen, wie ich war. Das. Aber alles andere nicht. Nicht wie ich bin. Nicht wie ich sein werde. Ich möchte eine Andere sein. Verstehst du? Und dabei kein Aber mehr akzeptieren.

Fretag, früher abends
Weißt du, ich habe mir eine Theorie zurechtgelegt. Sie basiert auf einer einfachen Prämisse, die verrückt klingen mag. Ich sage mal so: Du musst folgendes schaffen: Dein Ich aburteilen, tilgen – aus dem Gedächtnis, aus der Fantasie. Aus den Wünschen. Überall, wo es aufblitzt. (Auch wenn das, was ich gerade aufschreibe der Wunsch eines Ichs sein mag. Mein tiefster Wunsch.) 

Freitag, nachts
Ich hasse das Ich. Ich, ich, ich. Ach, was soll ich dir sagen? Ich verdränge mich selbst nicht genügend. Dieses hässliche, widerliche, aufdringliche Ich! Fort damit. Es taugt nicht! Es quält! Es ist ein unbrauchbares Instrument, das wie ein kranker Tumor ihn mir wuchert. Mit einem Ich kann ich die Menschen nicht entdecken, kann ich sie nicht finden. Es steht mir immer im Weg! Sich selbst erkennen? Was für ein Unsinn! Der Anfang und das Ende der Erkenntnis soll das Ich sein? Und die anderen Menschen bloß Durchgangsstation? Ihre Welt bloß dazwischen, zwischen Ich und Ich? Wie öde! Wie langweilig! Wie nichtig. Wie überflüssig. Umkehren muss ich das! Das Ich ist Durchgangsstation. Die Welt ist der Anfang. Und die Welt ist das Ende. So ein Ich könnte ich akzeptieren.

Samstag, morgens
Wenn ich bisher Ich sagte, dann sagte ich es nicht aus Unsicherheit oder aus Egoismus, sondern aus Unvermögen, die Menschen und ihre Welt sich in mir ausbreiten zu lassen, sie in mich hineinzulassen, in mir zuzulassen. Als wäre ich ein Panzer. Als ob ich aus meinen Luken und Schlitzen linste, und sie sofort schließe, wenn die Angst in mir ausbricht. Ich lasse sie nunmehr heraus, die Angst, diesen Eiter, Und ich lasse sie nicht mehr hinein. 

Samstag, spät morgens
Immer diese Unlust, das Ich einfach fahren zu lassen, wie einen Furz – und mich von Anderen besetzen zu lassen. 

Samstag, mittags
Das Ich verschwindet nicht. Es muss zurückgedrängt werden, ausgetrieben, vertrieben. Verstehst du? Aber es ist so raffiniert, das Ich! Es ist so verschlagen, dass es glatt behauptet: „Ich bin nicht mehr da, ich habe mich verpisst.“ Und doch ist es noch da! Verstehst du? Es versteckt sich. Es ist hinter der Maske des Ich-bin-ja-gar-nicht-mehr-da-ätsch-bätsch. Es ist nur immuner geworden, unangreifbarer, unerschütterlicher, unberührbarer. Nein! Man darf sich nichts vormachen. Man muss es wirklich und gnadenlos austreiben! Verstehst du?

Samstag, früh nachmittags 
Die Ich-Verneinerin! Die Ich-Zerstörerin! Sie ist in mir geboren! Sie! Diese! das Nicht-Ich.

Samstag, spät nachmittags 
Die wahre Verneinerin des Ichs geht nicht von der Souveränität des Ichs aus. Nicht vom Angriff der Außenwelt auf das Ich. Nicht von der Erschütterung des Ichs durch die anderen Menschen. Nein! Die wahre Ich-Verneinerin geht aus von der Alleinexistenz der Außenwelt, von der Existenz der anderen Menschen! Die Ich-Verneinerin leugnet das Dasein des eigenen Ichs. Das ist der wirklich freie Zustand, den ich mir ersehne. Und für den man mich als krank erklären wird. Verlust der Kernidentität, dissoziative Persönlichkeitsstörung, höre ich die Psychiater schon säuseln… 

Samstag, spät nachts
Natürlich es ist absurd, seine physische und psychische Existenz zu leugnen, das Denken, das Wahrnehmen, das Bewerten, das Entscheiden, das Handeln – kurzum, alle üblichen Merkmale eines Individuums, des ungeteilten, unteilbaren Wesens, das wir ja angeblich seien. Vor Gott. Vor dem Grundgesetz. Vor der höchsten Instanz. Nein, nein – das bestreite ich ja nicht! Es geht nicht um die Verneinung dieser Merkmale und ihre Zerstörung, sondern um die Verneinung einer bestimmten Haltung gegenüber diesen Merkmalen, die ja unbestreitbar existieren. Verstehst du? 

Sonntag, sehr früh
Aber verwechsle nicht die Ich-Verneinerin, die Ich-Zerstörerin mit den Schwarzsehern, mit der Zynikern und mit der Menschenhassern. Niemals verwechsle sie damit! Diese glauben die Welt ist feindlich. Aber die Welt ist nicht feindlich. Genauso wenig wie sie freundlich ist. Sie ist gleichgültig. Das ist sie. Diese Hurenböcke und Schweine erheben die Feindschaft zum Maß aller Dinge. Schweine, Schweine, Schweine. Das tut die Ich-Verneinerin nicht. Sie wirft den Anderen ihr Ich nicht vor, sie wirft lediglich das eigene fort, denn sie braucht das Ich der anderen wie die Luft zum Atmen. Die Welt. Die anderen Menschen. Sie sind meine Mahlzeit. Mein Ein und Alles. Mein A und O. Mein Sinn, mein Anfang und mein Ende. Meine Beschäftigung, mein Zweck. 

Sonntag, früh
Die Ich-Verneinerin kennt nur einen Feind: Das verborgene, eitle, eiternde, wichtigtuerische Ich. Das muss sie niederhalten, niederzwingen. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, ja, aber nicht sein Ich! Die Ich-Verneinerin glaubt nicht an den Wert des Ichs. Nur an die Beziehungen zu anderen Menschen. Nur daran. An ihre unerschöpfliche Tiefe, an ihren Reichtum, den es zu entdecken gilt. Ihr Vermögen ist nur darauf angelegt, dies zu entdecken. Darin liegt ihr Genuss. 

Sonntag, mittags
Die Ich-Verneinerin hat eine ausgeprägte Kenntnis des Ichs. Ekstase, Größenwahn und Kult des Ichs hat sie selbst durchlebt. Aber weil sie die Bedeutungslosigkeit des Ichs selbst durchlebt hat und immer wieder durchlebt, lehnt sie ihr eigenes Ich ab und bekämpft es. Die Ich-Verneinerin kämpft gegen die eiternden Reste ihres Ichs und ist zugleich ihr tiefste Kenner. Es ist ihre Hölle, der sie nicht entrinnen kann. Die Ich-Verneinerin ist die Zerstörung des Ichs, aber nicht das zerstörte Ich. Verstehst du den Unterschied? 

Sonntag, nachmittags
Der Schwarzseher ist ein religiöser Auswuchs des ermüdeten Ichs. Das Ich, das an Größenwahn ermüdet ist. Die Ich-Verneinerin dagegen ist kein Feind des Ichs! Nein! Nicht des Ichs, das ihr gegenübersteht. Sie merzt nur ihr eigenes aus. Reinigt sich von Maskierungen, Eitelkeiten und Selbstlügen. Taufe, Säuberung, Reinigung vom stinkenden, verlogenen, selbstzufriedenen, kranken eigenen Ich! Die anderen Menschen, die sind mir Heiligtum, Gegenstand, Material. 

Sonntag, abends
Das Ich, dieses lästige Ding, entsteht doch nur durch nichtverarbeitete Katastrophen. Ich hasse das Ich, weil ich so darauf geworfen bin. Weil ich alles spüre an mir, jede Schwankung. Es ist so langweilig das Ich. Ich kenne es, es ist nichts neues. Aber ich töte es nicht, ich werfe es nicht wirklich ab, stattdessen belüge ich mich mit ihm. Ständig vergleiche ich das Ich mit dem Ich der Anderen. Weg, weg, weg! Es kultiviert sich immer nur mit Neurosen, aber nicht mit Fähigkeiten. Verdammt! Ich will mich endlich verwandeln in etwas anderes. Eine Frau ohne ein Ich! Ein Ohne-ich! Verstehst du? Wir müssen ein neues Personalpronomen erfinden! Das Ohne-Ich! Das Ohne-Ich zum Instrument machen. Für Beziehungen. Ein Spielzeug. Nichts anderes! Wenn das Ich sinnlos ist, ist auch das Alleinsein sinnlos. Da man aber im Leben allein ist, ist das Leben sinnlos. Also muss ich das Ich ermorden. So gut es geht. Dann wird alles gut.

Sonntag, nachts
Ich werde hier herausgehen und nicht mehr allein sein. Weil es mich dann nicht mehr gibt! Haha! Nur das Ich ist verurteilt allein zu sein. Aber, wenn ich es ermordet habe, was dann? Wenn ich mich umgebaut habe in ein Gerät, in eine Konstruktion, durch die die Welt hindurchzieht. Ob in eine Kläranlage, oder in eine Verschmutzungsanlage. Das spielt keine Rolle. Ich lasse die Welt vorne herein. Und hinten heraus. Und dazwischen wird etwas umgewandelt. Mich gibt es nicht mehr. Nur noch eine Konstellation von Fähigkeiten, die etwas zu verwandeln hätte. Ich existiere nicht mehr. Es gibt nur noch das Ohne-Ich, das einen Namen trägt. Und die Welt. Nicht anderes. Das ist alles. Ich bin tot. Ich lebe nicht mehr. Das Ohne-Ich lebt. Es lebt mich. Verstehst du?