Die Archivarin (2001)

1
Ich schätzte sie Mitte vierzig. Sie war blond und schleppte einen merkwürdigen Körper mit sich herum. Es war als schaute man zwei Frauen in einer an. Sie war ziemlich groß und hatte einen mächtigen, weichen wulstigen Oberkörper, ganz im Gegensatz zu ihren langen, ungewöhnlich schlanken Beinen. Beides war faszinierend anzuschauen, aber passte irgendwie nicht zusammen. Ich begegnete ihr das erste Mal im Kreisarchiv, einem zweistöckigen Plattenbau, drei Durchgangszimmer, die Türen fehlten. Zimmer ist das falsche Wort, es assoziiert Heimeligkeit, die es nicht gab, die Wände waren bis auf eine vollkommen kahl.

Im ersten Raum, eigenartigerweise in der Mitte, stand ein quadratischer Tisch mit zwei Stühlen, eine Fransendecke auf der Tischplatte, ein Blumentopf mit Untersetzter drauf. In einer Ecke ein altes, vergilbtes Kopiergerät.  Im zweiten Raum stand schräg gestellt ihr rechteckiger Schreibtisch mit Telefon und Computer. Ein wuchtiger Aktenschrank in der Ecke. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster. Ihr gegenüber vereinsamt ein großer Blumenkalender an der Wand und ein winziges, rundes Tischchen, mit zwei Stühlen und wieder einem Deckchen mit arglos herunterhängenden Fransen drauf. Im dritten Raum standen zwei Tische zusammengerückt direkt vorm Fenster, vier Stühle, das war alles. Der Leseraum. 

Es lag ein eigentümlich dämmeriges Licht in den Räumen als ich eintrat, nicht unangenehm, doch sonderbar befremdend. Sie fragte mich, als sie mir einen Stapel gebundenen Zeitungen aus dem Keller auf meinen Tisch legte und ich von den Aktenordnern aufblickte, die ich bereits durchgesehen hatte, ob sie mir jetzt das Licht anschalten solle, sie hasse es, das Neonlicht, deshalb sei es hier vielleicht für mich doch zu dunkel. Es störte mich nicht, ich mochte diese Art von Büro-Neonlicht ebenfalls nicht, sagte ich. Später, als sie den dritten Stapel gebundener Zeitungen brachte, fragte ich sie, wie lange sie hier schon arbeite, dreizehn Jahre, sagte sie und blieb an der Türöffnung stehen, lehnte sich an und sprach diesen sonderbaren Satz. „Ich bin hier ein kleines Licht. Eine Kerze, die man auspusten kann.“ Sie hatte ein ungewöhnlich ebenmäßiges Gesicht, fand ich, ließ sie reden und betrachtete sie.

Wir sprachen das über das damals übliche Zeug, Regionalpolitik, Landratswahlen, die unsicheren Arbeitsverhältnisse, die Wessis im Kreis. Wir redeten das alles, weil wir gern miteinander reden wollten, obwohl wir uns nichts zu sagen hatte. Ich genoss, wie sie so dastand und sie, schätze ich, sie genoss wie ich so dasaß und offensichtlich alle Zeit der Welt hatte, mir das alles anzuhören. Sie machte Witze über sich selbst, weil sie so viel erzähle, aber sie sei seit fünf Jahren hier in diesen Räumen allein und wann verirre sich schon mal jemand hierher. Ich meinte, worauf sie kurz stutzte, dass sie alles reden könne, solange sie dort stehen bleiben würde und ich sie anschauen dürfte. Ich hatte Stunden gelesen, war müde, träge, lüstern, die Sonne war inzwischen herausgekommen und stand tief im Raum, ich roch nach staubigen Akten und nun lag da der nächste Jahrgang von Zeitungen und sie stand an der Tür mit ihrem riesigen wulstigen Oberkörper und die Worte perlten aus ihrem Mund wie süßer süffiger Sekt, was hatte sie für ein helles, göttliches Gesicht. Irgendwann begann sie mich auszufragen und ich gab vor telefonieren zu müssen und sie ließ mich wieder allein. Wochen später las ich einen Artikel über sie in der Zeitung, sie hatte Besuch von der Landrätin bekommen, irgendein Jubiläum, die zierliche, sehr gut gekleidete Rätin hielt eine überdimensionale historische Kladde in den Händen, daneben meine Archivarin mit einem Blumenstrauß auf ihren langen schlanken Beinen und ihrem wuchtigen Oberkörper.

2
Monate danach trafen wir uns zufällig in einem dieser riesigen Einkaufscenter wieder, mit prallen Tüten in den Händen, wir schwitzten wie die Schweine, es war Juli geworden. Wir freuten uns instinktiv als wir uns erkannten und entschlossen uns ein Getränk zu nehmen, in einem Bistro, dessen Stühle im überlaufenen Kreuzweg der halligen Schläuche standen, geschützt von einer hölzernen mit Kunstblumen verzierten Balustrade. Sie schwitze mehr als ich und ich beobachtete verzückt die Bläschen auf ihrer Oberlippe, das Rinnsal, das von der Schläfe über ihren Hals auf das Schlüsselbein führte, wo die Tröpfchen sich auf den Weg zu ihren Türmen von Brüsten machten.  Wir sprachen über Kinder, ich über meinen kleinen Sohn und seine Sprechversuche, sie über ihren erwachsenen Sohn, als der noch klein war. Ich hakte nach, damit ich nicht reden musste und sie weiter anschauen konnte.

Wir nahmen Orangensaft mit Eis. Sie hatte die Einkaufstüte zwischen ihre sagenhaft schlanken Beine gestellt, die Brüste ruhten auf den Unterarmen, vorgebeugt sog sie am Strohhalm. Der Pegelstand der trüb-orangene Brühe nahm rasch ab. Ich holte von der Theke mehr. Sie lehnte sie sich zurück. Ich wusste nach ein paar Worten, sie würde mir eine Geschichte erzählen, eine Sache, die ihr an die Nieren ging, ich bekam eine meiner akustischen Halluzinationen, hörte das Fußgetrappel der Leute auf den glatten grau-spiegeligen Fliesen, das Geschlurfe und das Geklapper der Absätze, das Stimmengemurmel der Leute war völlig weggeblendet und nur noch ihre weiche, warme Stimme war da, bei der ich an alles andere denken wollte als an eine herzzerreißende Geschichte. 

Ich weiß nicht, ob mich der Teufel ritt, jedenfalls entschloss ich mich, ihre Geschichte permanent mit Zwischenfragen zu unterbrechen, damit der schwere Seelensaft verdünnt würde, den sie mir in meine Herzschale gießen wollte. Ich wollte sie zu Details zwingen, zu Abschweifungen, zu einer breiten, farbigen Story mit vielen Einzelheiten. Das würde einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich müsste nicht sofort auf Betroffenheit umschalten. Ich suchte mein Heil in irgendwelchen Einzelheiten, ohne zu wissen, wohin das führte und ich konnte sie ununterbrochen anschauen.

„Wann und wo war das genau?“
„Er lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, hatte sich so in eine Wolldecke eingerollt. War trübes Licht draußen, ich hatte die Vorhänge abends nicht zugezogen, weil ich früh ins Bett bin, mit einem Buch, so‘n dicker Schmöker.“
„Ist da noch das Ehebett drin?“
„Ja, ja.“
„Habe Sie eine Seite, auf der sie immer liegen und schlafen?“
„Sie stellen Fragen. Aber wenn ich so nachdenke, ich liege mal auf der rechten und mal auf der linken Seite. Aber wo ich auch liege. Irgendwie fehlt immer einer.“ Sie lachte und schaute mich an, mir wurde ganz flau im Magen. „Jedenfalls, er muss früh gekommen sein, so zwischen sechs und sieben. Da bringen sie die Zeitung. Die lag aufgeschlagen auf dem Fußboden. Ich hab mich später gewundert, weil er eigentlich keine Zeitung liest.“
„Haben Sie keinen Schreck bekommen, als er da plötzlich lag?“
„Nein, hab ich nicht, obwohl seit Jahren keiner mehr in der Wohnung war seitdem er weg ist, keine Freundin, kein Mann, ich treff mich lieber im Café.“
„Sie sind also aufgestanden und nackt ins Wohnzimmer gegangen?
„Ich schlafe nicht nackt.“
Sie lachte auf, ich machte eine demonstrativ ärgerliche Geste über meine Unverschämtheit, sie kicherte.
„Als ich ihn sah, hab ich ihn erst gar nicht erkannt, er hatte mir ja den Rücken zugewandt und die Decke über den Kopf gezogen.“
„Jemand wildfremdes in Ihrer Wohnung und Sie hatten keine Angst?“
„Nein, ich weiß auch nicht wie das kommt, bei mir kann reinlatschen wer will, ich lass draußen oft den Schlüssel stecken, komm gar nicht auf die Idee, dass bei mir jemand reinkommen und mir was klauen könnte, da ist nichts, woran ich hänge.“
Ich grinste und verkniff mir eine erneute, dämliche Bemerkung.
„Und woran haben Sie gemerkt, dass er es war?“
„Ich hab ihn erkannt als ich den Schlüsselbund auf der Tischplatte gesehen hab, da ist so ein schwarzer Panther dran, Hartgummi, für Kinder. Den hatte ich ihm zum Dreizehnten geschenkt. Da war mein Mann gerade ausgezogen.“
„Und dann?“

Dann unterbrach ich sie nicht mehr. Sie redete und und redete und ich hörte ihr zu. Ich dachte manchmal an das Fahndungsfoto ihres Sohnes in der Zeitung. Und an die Polizisten, die die Wohnung stürmten. Und wie sie hinterher aufräumte und das Blut vom Boden putzte. Sie drehte das leere Glas, die Eiswürfel klirrten, die Füße der Einkäuferhorden trappelten, ihre raunenden Stimmen setzten wieder ein, ich lehnte mich zurück, das Licht floss durch das milchige, gewölbte Deckenglas des Centers herunter, ich stemmte die Arme in den Nacken, fühlte mich sauwohl, hörte ihr zu, knöpfte in Gedanken ihre Bluse auf und wunderte mich, dass ich so gar keine Betroffenheit spürte.